Inhaltsverzeichnis:

1. Einleitung
1.1 Das Zeitalter der Aufklärung
2. Ausgangslage Hamburgs:
2.1 Wirtschaftliche Situation
2.2 Politische Situation:
3. Gründung des "patriotischen Vereins"
4. Das Hamburger Modell (der Armenfürsorge)
4.1 Erfassung und Datenerhebung:
4.2 Arbeitszwang und Arbeitsbeschaffung:
4.3 Schulische (Aus-)Bildung als Qualifizierung
5. Fazit: Die Bedeutung des Hamburger Modells
6. Zeittafel 1 (Hamburg)
7. Ausgangslage Elberfelds:
7.1 Wirtschaftliche Situation
7.2 Politisch-religiöse Situation
8. Entwicklung der Elberfelder Armenfürsorge bis 1852
9. Das Elberfelder System
10. Fazit: Die Auswirkungen des Elberfelder Modells :
10.1 Allgemeines (preußisches) Landrecht, Elberfelder System und BSHG
10.2 Die Geburt des Sozialarbeiters
11. Zeittafel 2 (Elberfeld)
12. Literatur:


1. Einleitung

Thema dieser Hausarbeit ist die Beschäftigung mit dem "Hamburger Modell" sowie dem "Elberfelder System" und ihre Auswirkungen auf die heutige Zeit. Mit dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus und den daraufhin beginnenden Siegeszug der "Globalisierung" stellen sich heutzutage neue Anforderungen an die Sozialarbeit (Stichwort: Wirtschaftlichkeit), welche eine Rückbesinnung auf die sozialen Lösungsvorschläge der damaligen Zeit notwendig machen, zumal sich manche politische Diskussion sich der Inhalte der damaligen Zeit zu bedienen scheint: "Heute scheint es so, als drohe im 21. Jahrhundert die Rücknahme der sozialen Errungenschaften früherer Epochen...Man könnte von einer "Refeudalisierung" sprechen, was für die Sozialpolitik und die Soziale Arbeit heißt: Privatwohltätigkeit und Fürsorge ersetzen wieder den gesetzlich garantierten Anspruch auf Sozialhilfe."

C. Butterwege: Vom modernen Wohlfahrtsstaat zum neoliberalen Sozialmarkt?, in: H. Scherer, I. Sahler (Hrsg.), Einstürzende Sozialstaaten, Wiesbaden 1998, Seite 12f

Dies mag (noch) als ein extremer Standpunkt erscheinen, angesichts einer Zeit, in der selbst die FAZ dem "Kommunistischen Manifest" eine erschreckende Aktualität zuerkennt, scheinen aber auch solche Zukünfte durchaus real zu sein

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1.1 Das Zeitalter der Aufklärung

Heute wird der Begriff der Aufklärung als Kennzeichen einer bestimmten Epoche der europäischen Kultur- und Gesellschaftsentwicklung verwendet,welche einen Übergang von den feudalistisch geprägten politischen und wirtschaftlichen Lebensverhältnissen zu denen eines bürgerlich dominierten Frühkapitalismus darstellt. "Der Begriff der Aufklärung wird etwa seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in Westeuropa, vor allen in Deutschland, England und Frankreich zur Kennzeichnung der (damaligen) Gegenwart als des Zeitalters der Vernunft und des Fortschritts sowie des Beginnes einer neuen Epoche der Freiheitsgeschichte verwandt."

H. Krings, H. M. Baumgartner, C. Wild (Hrsg.): Handbuch philosophischer Grundbegriffe,München 1973,Band 1, Seite 141f.

" Für Kant (z.B.) bedeutet Aufklärung nicht nur Ausgang des einzelnen aus seiner selbstverschuldeten und von den politischen und religiösen Mächten geförderten Unmündigkeit, sondern vor allen Überwindung des Naturzustandes des einzelnen und der Gesellschaft durch einen rechtlich-politischen Zustand."

ebendort, Seite 145.

Während die spätere Denkrichtung des dialektischen Materialismus den ideologischen Gehalt der Aufklärung genauer bestimmten ("Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d. h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht."

K. Marx, F. Engels: Die deutsche Ideologie, Marx-Engels-Werke,Band 3,(Ost-)Berlin 1978, Seite 46

), womit gemeint ist, daß die Aufklärung Ausdruck eines bürgerlichen Klasseninteresses war und somit ihrem Wesen nach Oppositionsliteratur ihrer Zeit.

G. Klaus, M. Buhr (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch, Band 1,Berlin 1975, Seite 153

Es ist jedoch anzumerken, daß es die große Leistung der Aufklärung war, Abschied zu nehmen von den "gottgegebenen Verhältnissen" der ständisch-feudalen Ordnung, um den Individuen die Möglichkeit zu geben, auf ihre (auch gesellschaftliche) Umgebung Einfluß zu nehmen.

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2. Ausgangslage Hamburgs:

2.1 Wirtschaftliche Situation

Schon frühzeitig etablierte sich Hamburg als Seehafen und Handelsplatz. Im späten Mittelalter bestanden Handelsverbindungen zum Nord- und Ostseeraum (allerdings in Konkurrenz zu Lübeck), wobei allerdings auch eine Spezialisierung auf den Handel mit selbstgebrautem Bier ("Brauhaus der Hanse") zu erkennen war. Nach dem Niedergang der Hanse öffnete sich Hamburg englischen Kaufleuten und Flüchtlingen aus den Niederlanden, was der Stadt sowohl Vermögen als auch neue Handelsbeziehungen einbrachte. Der Handel wurde nunmehr "atlantischer", Spanien und die Niederlande wurden wichtige Handelspartner, Absatzmärkte waren das Umland sowie Skandinavien und Rußland. Die Kriegswirren des 17.Jahrhundert überstand Hamburg als neutrale, reichs-unabhängige Handelsstadt, was auch im Interesse aller damals über Hamburg Handel treibenden Großmächte war. Innerhalb dieser Zeit bildete sich auch das zeitlich zweite bedeutende Gewerbe der Stadt heraus: Der Walfang und die Verarbeitung der Wale zu Tran (bzw. der Walbarten zu Sprungfedern oder Korsettstäbe). Die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts brachte einige neue Gewerbe in die Stadt, welche durch die damals neue Produktionsmethode der Manufakturen prosperierte und sich damit eine (vor-)industrielle Unterschicht zulegte. "...niederländische Zuwanderer belebten das Gewerbe der Seiden- und Wollweber, Posamentierer, Caffamacher, Gewandfärber und Gerber. 1730 werden mit dem Kattundruck die Anfänge erster Manufakturen in Hamburg verzeichnet."

C. Prange, Handel und Schiffahrt im 18. Jahrhundert, in: Inge Stephan, H.-G. Winter (Hsg.), Hamburg im Zeitalter der Aufklärung, Berlin 1980, Seite 45

Andererseits förderte Handelsvertrag von 1716 mit Frankreich insbesondere die Einfuhr von (Rohr-) Zucker, welcher in der Stadt zu Zuckerhüten, Sirup oder Kandis verarbeitet wurde. Dieses Gewerbe, obwohl es nicht in Manufakturbetrieben durchgeführt wurde, bot insgesamt ungefähr 8000 Menschen Beschäftigung. Gleichzeitig bildete sich eine Konkurrenz unter den Handwerkern heraus, welche zunehmend aus dem alten System der Zünfte herausfielen bzw. ausgeschlossen waren ("Bönhasen"). Als große Zäsur in der Wirtschaftsgeschichte Hamburgs ist der 7jährige Krieg zu sehen, welcher Preußen mit Österreich um den Besitz Schlesiens führte. Friedrich der Große wandte in Preußen den Merkantilismus an, dessen Zielsetzung eine höchstmögliche Autarkie darstellte. Aus diesem Grund wurden Handelsbeschränkungen verfügt, welche die Hamburger Manufakturen besonders trafen, indem ihnen ihre Absatzmärkte genommen wurden und so zum Rückgang der Anzahl der Arbeitsplätze führte. Auf der anderen Seite erlebte Hamburg in dieser Zeit einen Aufschwung des Handels, welche trotz des Niedergangs der Manufakturen für eine solide finanzielle Basis der Stadt sorgte. Zwar war Hamburg vom direkten Überseehandel der Kolonialmächte mit ihren Kolonien ausgeschlossen, kompensierte dieses jedoch als Zwischenhandelsplatz in Form eines kombinierten See- und Binnenhafens, welcher die Territorialstaaten mit Waren bediente, welche von merkantilen Einschränkungen ausgenommen waren (z.B. Luxusgüter). Die Gründung der hamburgischen "Patriotischen Gesellschaft zur Beförderung der Manufakturen, der Künste und nützlichen Gewerbe" erfolgte primär als Reaktion auf die Hamburg negativ beeinflussenden Effekte des Merkantilismus. In ihrer Folge aber propagierte sie die Vorstellung eines freien Welthandels und damit eines Wirtschaftsliberalismus in der Hoffnung, das die hamburger Händler davon profitieren würden. Bezeichnenderweise eröffnete sich 1788 (dem Jahr des Hamburger Modells) mit der ersten Ankunft eines Schiffes aus den USA der hamburgische Überseehandel eine neue Dimension, welche den Forderungen der patriotischen Gesellschaft entsprach.

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2.2 Politische Situation:

Als eine der ehemalig führenden Städte der mittelalterlichen Hanse konnte sich Hamburg im Rahmen des "heiligen römischen Reiches deutscher Nation" seine politische Eigenständigkeit als kaiserliche freie Reichsstadt bewahren. Somit war Hamburg schon seit dem Mittelalter als Stadtstaat zu sehen, welcher sich unabhängig von seinem Umland als Republik entwickelte. Diese Republik darf aber nicht mit unserem heutigen Demokratieverständniss gesehen werden, da sich das Wahlrecht auf diejenigen Personen beschränkte, welche "umfangreichen schuldenfreien Besitz" vorweisen konnten

Inge Stephan, H.-G. Winter (Hsg.), Hamburg im Zeitalter der Aufklärung , Berlin 1989, Seite 7

, welche nur eine Minderheit der Bevölkerung darstellten und die hamburgische Politik nach ihrem Interesse formten. Der "Hauptrezeß" von 1712 bildete bis zur Einnahme Hamburgs durch Frankreich im Jahre 1806 die Verfassung Hamburgs und zeigt allein durch die Dauer seines Bestandes, wie erfolgreich der hamburgische Rat die Stellung der Stadt als wichtigen Handelsplatz auch gegen ausländische Interessen (Gottroper Vergleich von 1768 mit Dänemark) durchsetzen konnte.

Inge Stephan, H.-G. Winter (Hsg.), Hamburg im Zeitalter der Aufklärung , Berlin 1989, Seite 7

Andererseits bedeutete aber die politische Unabhängigkeit gegenüber dem Umland, mit welchen man wirtschaftlich verflochten war, das man in Hamburg politische Lösungen nur für die Stadt entwickeln konnte, ohne das Umland einzuschließen. "...Hamburg, ...(die) Stadt ohne Territorium und darum ohne binnenländische Mentalität...Der Wirtschaftsliberalismus Hamburgs ist im 18. Jahrhundert die Ideologie einer Stadt, die keine Seekriegsmacht war und nie sein wird...Aller Republikanismus hat hier seine Bedingung und Grenze"

Hartmut Böhne: Hamburg und seine Wasser im 18. Jahrhundert, in: Inge Stephan, H.-G. Winter (Hsg.), Hamburg im Zeitalter der Aufklärung , Berlin 1989, Seite 65

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3. Gründung des "patriotischen Vereins"

Wie schon vorher erwähnt, kann die Gründung der "Patriotischen Gesellschaft zur Beförderung der Manufakturen, der Künste und nützlicher Gewerbe" 1765 als Reaktion auf den 7jährigen Krieg Friedrich des Großen und seines Merkantilismus gesehen werden. Ihr setzte sie als aufklärerischer Verein den Wirtschaftsliberalismus entgegen, aber auch damit zusammenhängend die Auflösung der Zunftzwänge und Zunftmonopole sowie die allgemeine Verbesserung der Ausbildung (gewerblich wie auch schulisch).Getragen wurde die Gesellschaft von den führenden hamburger Persönlichkeiten, welche teilweise auch dem Rat der Stadt angehörten. Aufgrund dieser Verquickung mit der städtischen Exekutive war es der Patriotischen Gesellschaft möglich, sich der hamburgischen Armenfürsorge anzunehmen und diese dann auch zu realisieren.

siehe auch: R. Bake: Zur Arbeits- und Lebensweise hamburger Manufakturarbeiterinnen im 18. Jahrhundert, in: I. Stephan, H.-G. Winter (Hsg.), Hamburg im Zeitalter der Aufklärung, Berlin 1989, Seite 363

Aus den oben genannten Zielen wurde dann das Hamburger Modell der Armenfürsorge geschaffen, welches auf drei Säulen fußte: a)Erfassung der Armut und Selektion der Hilfsbedürftigkeit, b)Arbeitsbeschaffung als Sprungbrett in den Arbeitsmarkt und c)Schulische (Aus-)Bildung als Qualifizierung. Das System des Hamburger Modells brach mit der Kontinentalsperre und dem damit verbundenen ausbleibens des Kapitalflußes zusammen, aber "Die Patriotische Gesellschaft bestand indes fort; sie widmet sich in der Gegenwart wieder verstärkt der sozialen Arbeit.-"

W. R. Wendt: Geschichte der sozialen Arbeit, Stuttgart 1990, Seite 29

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4. Das Hamburger Modell (der Armenfürsorge)

4.1 Erfassung und Datenerhebung:

Bei der Errichtung der hamburger Armenanstalt und des hamburger Modell ist auffällig, daß hier erstmalig methodisch und damit quasi wissenschaftlich vorgegangen wurde. Unter der Annahme, das unselektierte, dem Zufall unterliegende einzelne Hilfsmaßnahme eher schädlich sei, da sie " die Armut vermehre, da sie Arbeitsamkeit und Erwerbssinn verkümmern lasse und auswärtige Bettler anziehe"

W. R. Wendt: Geschichte der sozialen Arbeit, Stuttgart 1990, Seite 28

, wurde nach Möglichkeiten gesucht, diese Zufälligkeiten zu minimieren und einen fundierten Überblick über die Armutslage in Hamburg zu verschaffen, statt sich von der Schilderung einzelner (plakativer) Schicksale leiten zu lassen ("Einige andere Menschenfreunde besuchten die Wohnungen der Armen persönlich, und erregten durch Erzählung ihrer Geschichte die Aufmerksamkeit des Publikums...")

C. von Voght: Über Hamburgs Armenwesen, Braunschweig u. Hamburg 1796, Seite 11

. Diesen Überblick verschaffte man sich mit einer Erhebung, deren Systematik noch heute erstaunen auslöst, welche aber heute in dieser Form wohl kaum noch durchführbar wäre. Hamburg wurde dazu in sechzig Quartiere aufgeteilt, wobei jedes Quartier im Durchschnitt ungefähr 20.000 Einwohner zählte. Diesen Quartieren wurden je drei (für 3 Jahre gewählte ehrenamtliche) Armenpfleger zugewiesen, welche zuerst die Lebensverhältnisse der einzelnen Armen zu erkunden hatten. Für diesen Zweck suchten sie die Armen auf, sammelten Auskünfte von städtischen Behörden und Nachbarn und registrierten die gewonnenen Erkenntnisse in Fragebögen, welche Angaben zur Person, zur Gesundheit, zum Einkommen und zum Grad der Verarmung festhielten.

W. R. Wendt: Geschichte der sozialen Arbeit, Stuttgart 1990, Seite 29

Diese doch recht intime Erfassung der Lebensumstände einzelner wird in der Literatur auch kritisch gesehen, weil hiermit ein Instrument geschaffen wurde, welches darauf hinauslief, "den Armen ein direktes Netz der Untersuchung und Überwachung überzuwerfen, nach den schärfsten Kriterien die noch irgendwie Arbeitsfähigen herauszusondern und sie zur Arbeit zu zwingen."

E. Köhler: Arme und Irre, Berlin 1979, Seite 97

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4.2 Arbeitszwang und Arbeitsbeschaffung:

Wie schon vorher gesehen, diente die Untersuchung auch dazu, die sogenannten arbeitsfähigen Armen, welche in der zeitgenössischen Literatur als "hilfsbedürftig" gekennzeichnet wurden, zu Arbeit und Lohn zu verhelfen. Dieses Angebot wurde als Sprungbrett für die Armen gesehen, welches sie nutzen sollten, um sich selber dann weiterhelfen zu können. Die dazu geführten vorbereiteten Überlegungen erscheinen uns sogar heute recht vertraut:"Ich weiß, daß ich hier von einer Sache rede, welcher große Schwierigkeiten entgegen gesetzt werden können. Die erste und zu sehr gemisbrauchte Schwierigkeit ist diese, daß man eine solche zum Behuf der Armen errichtete Manufactur schon gleich von der Seite der Einträglichkeit ansieht und berechnet.".weiter:"...Aber in einem Staate, der nur aus Einer großen Stadt besteht, die bis dahin ihre Manufactur-Waren aus der Fremde bezogen hat, kann diese Schwierigkeit (des Absatzes) nicht auf eben dieser Art enstehen. Arbeitet man noch immer zu teuer...so kann man mit den Verkaufspreisen so weit herabgehen, daß der ausländischen Ware der Zugang verschlossen bleibt" Hiermit wird schon klar, das es sich hier um Zuschußbetriebe handeln würde, diese Zuschüsse wurden aber als sinnvoller erachtet als allgemeine Almosen, da nun "...diese Armen wieder in den ordentlichen Weg bürgerlicher Beschäftigung gesetzt (werden). Sie wirken mit ihrem Erwerb auf den Geld-Umlauf gehörig ein, und wir alle haben, jeder in seinem Betriebe, wieder Gutes von ihnen."

Johann G. Büsch: Erfahrungen, Bd. 3, Seite 122ff, hier aus: E.Köhler: Arme und Irre, Berlin 1979, Seite 95

In diesem Sinne wurde z.B. eine Flachsgarn-Spinnerei betrieben, welche ca. 1350 Personen beschäftigte, wobei der Lohn etwa 75% des üblichen betrug. Es wurde aber auch versucht, die Manufakturbetriebe des "freien Marktes" anzusprechen: "...es lohnte sich für die Manufakturbesitzer, Arme zu beschäftigen, die von der Armenanstalt unterstützt wurden. Ihnen brauchten die Unternehmer einen niedrigeren Lohn zu zahlen als Arbeitsuchenden vom "freien" Arbeitsmarkt. Dieser niedrige Lohn wurde durch einen Zuschuß von der Armenanstalt aufgestockt...Dieser Zuschuß (wurde) so berechnet, daß der Gesamtlohn...ein...errechnetes Existenzminimum erreichte. Und dieses Existenzminimum war so minimal, daß die Armen garantiert arm blieben..."

R. Bake: Zur Arbeits- und Lebensweise hamburger Manufakturarbeiterinnen im 18. Jahrhundert, in: I. Stephan, H.-G. Winter (Hsg.), Hamburg im Zeitalter der Aufklärung , Berlin 1989, Seite 364

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4.3 Schulische (Aus-)Bildung als Qualifizierung

Wie schon vorher erwähnt, diente eine Art schulischer Ausbildung als Grundlage für die Chance der Armut entfliehen zu können und wurde als solche ein gesonderter Bestandteil der hamburgischen Armenpflege: "Ungleich häufigere Fälle aber waren eine fast völlige Unfähigkeit des Alters oder Schwäche oder Mangel an Geschicklichkeit. Zum Besten dieser letzteren Armenklasse ward eine Schule angelegt, und sie lernten in einem Vierteljahre leicht das Spinnen...bis er in der zwölften Woche gar nichts weiter als seinen Arbeitslohn erhielt und mit einem Spinnrade und einem ihm geschenkten Pfund Flachs entlassen wurde."

C. Voght: Über die Errichtung der Hamburgischen Armenanstalt im Jahre 1788, Hamburg 1796, Seite 202, hier aus: E.Köhler: Arme und Irre, Berlin 1979, Seite 97

Wie erkennbar ist, handelte es hier sich nicht um eine allgemeine Ausbildung im heutigen Sinne mit denjenigen Einschränkungen, die sich auf eine transformation auf die damalige Zeit ergeben würden, sondern um eine Art "Industrieschulung" mit dem Ziel, den Schüler für den allgemeinen Arbeitsmarkt zu befähigen. Andererseits war erstaunlich, das diese Schulung schon recht früh (ab dem 5. Lebensjahr) einsetzte und geplant war, einen möglichst großen Teil der Betroffenen zu erfassen. In dieser "Industrieschule" sehen deshalb einige Autoren auch eine Frühform der späteren Volks- oder Grundschule.

Siehe auch: E.Köhler: Arme und Irre, Berlin 1979, Seite 98

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5. Fazit: Die Bedeutung des Hamburger Modells

Es darf nicht vergessen werden, das es bei der hamburgischen Armenfürsorge nicht darum ging, die Armut komplett zu eliminieren, eher ging es darum, sie zu kanalisieren: "Der Gegenstand unserer Armenpflege sind Leute von drei verschiedenen Classen, nemlich die Armen, die Hülfsbedürftigen und die Bettler unserer Stadt... In einem blühenden Staat müssen viel Arme, wenig Hülfsbedürftige, und keine Bettler sein."

"Armen-Ordnung" in: Vollständige Einrichtungen der neuen Hamburgischen Armen-Anstalt, hg. vom Hamburgischen Armen-Collegio, Hamburg 1788, hier aus: E.Köhler: Arme und Irre, Berlin 1979, Seite 97

So gesehen war auch das Kriterium der Hilfsbedürftigkeit sehr eng ausgelegt: "Die Frage an alle hülfsbedürftigen Armen war, ob sie durch ihre Arbeit wöchentlich etwa einen halben Taler verdienen könnten. Denn man wußte schon aus Erfahrung, daß manche Armen hiervon lebten;...War die Antwort bejahend, so bedurfte der Arme keiner wöchentlichen Beihülfe."

C. Voght: Über die Errichtung der Hamburgischen Armenanstalt im Jahre 1788, Hamburg 1796, Seite 202, hier aus: E.Köhler: Arme und Irre, Berlin 1979, Seite 97

Aus unseren heutigen Sicht erstaunt das Hamburger Modell durch Lösungsansätze, welche auch heute wieder diskutiert werden, so z.B. durch bezuschußte Arbeit, welche heute den Nahmen "Kombi-Lohn" trägt, aber auch Arbeitslohn statt Almosen, welches wir heute mit Arbeit statt Sozialhilfe übersetzen würden. Aber auch die Vorstellungen Keynes finden sich in einer frühen Form wieder (Arbeitsbeschaffung durch Beschäftigungsmaßnahmen), wobei der hamburger "Keynsianismus" sich durch das damalige Vermögen Hamburgs speiste, statt aus Staatsschulden, welche im Vorgriff auf daraus zu resultierendem Wirtschaftswachstum aufgenommenen werden. Dabei bestand aber trotz allem die Hoffnung, das sich längerfristig das Hamburger Modell makroökonomisch selber durch Kaufkrafterhöhung tragen würde (Mitwirkung am "Geld-Umlauf" als synonym für angeregte Binnennachfrage und daraus resultierendem Wirtschaftswachstum). Besonders auffallend ist aber bei allem die schon vorher erwähnte makroökonomische Grundlage bzw. Betrachtungsweise des Hamburger Modells, welche sich aus der Besonderheit resultiert, daß die hamburger Stadt nun mal gleichzeitig ein eigener Staat war und damit städtische Wirtschaftspolitik unmittelbar auch eine staatliche war: "...Meine Rechnung ist keineswegs kaufmännisch; das weiß ich. Aber sie ist staatswirtschaftlich.

Johann G. Büsch: Erfahrungen, Bd. 3, Hamburg 1793, Seite 122ff: hier aus: E.Köhler: Arme und Irre, Berlin 1979, Seite 95

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6. Zeittafel 1 (Hamburg)

1558 Gründung der Hamburger Börse
1567/1570 Gründung englischer Niederlassungen / Aufnahme protestantischer und jüdischer Flüchtlinge aus den spanischen Niederlanden
1600 Einwohnerzahl Hamburgs: 40.000
1619 Gründung der Hamburger Bank
1616-1625 Festungsbau zur Selbstverteidigung der Stadt
1623 Gründung der hamb. Admiralität zum Schutz des Seehandels
1622 Arbeitshaus als Internierungseinrichtung für Arme
um 1650 Beginn des Walfangs
1673 Straßenbeleuchtung mittels (Wal-)Tranlaternen (400 Stück)
1700 Einwohnerzahl Hamburgs: 60.000
1716 Handelsvertrag mit Frankreich
1725/26 Konkurrenz zwischen der städt. Schiffbauzunft und zunft-ungebundenen Schiffsbaumeistern anläßlich des Baus zweier bewaffneter Ostindienfahrer.
1730 erste Manufaktur (Kattundruck)
1750 Quasi-Monopol für hamburgischen Zucker in Norddeutschland und Skandinavien/365 Zuckersiedereien
1756/63 7jähriger Krieg / Exportverbote nach Preußen
1763- ca. 1790 Niedergang des Manufakturwesens in Hamburg
1765 Gründung der "patriotischen Gesellschaft"
1788 Hamburgische Armenreform: das Hamburger Modell
1789 französische Revolution/Verlagerung französischer und niederländischer Firmen nach Hamburg/europäischer Zentralhafen für Amerika-Waren
1790 Einwohnerzahl Hamburgs: 130.000
1795 Übernahme des holländischen Ostindienhandels durch Hamburg
1803 englische See-Blockade der Elbe
1808 Einmarsch französischer Truppen / Hamburg wird Teil des franz. Kaiserreiches

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7. Ausgangslage Elberfelds:

7.1 Wirtschaftliche Situation

Es wird hier die wirtschaftliche Situation des damaligen Wuppertales beschrieben, da die sehr nahe beieinanderliegenden Städte Elberfeld und Barmen sowie (teilweise) das westlich gelegene Vohwinkel sich wirtschaftlich größtenteils parallel entwickelten. Die Wuppertaler Wirtschaft entwickelte sich aus der Grundlage des Garnbleichens, welches an der Wupper aufgrund ihres Wasserkalkgehaltes besonders effektiv durchgeführt werden konnte. Mit Erlangung des Monopols für diesen Wirtschaftszweig und der Gründung der "Garnnahrung" als zunftähnlicher Genossenschaft zur Verteidigung desselben war eine Grundlage für die daraufhin einsetzende frühindustrielle Entwicklung des Wuppertales gelegt worden: "Neben die Garnbleiche trat die Verwebung von Leinen- und später Baumwollgarnen ... Thun gibt den Umfang der Webereiproduktion für das Jahr 1765 wie folgt an:... 1.500 Webstühle auf Siamosen mit 18.000 Spinnern, Spulern...2.000 Webstühle auf Leinenzeug...mit 8.000 Arbeitern und 2.000 Bandstühle mit 6.000 Arbeitern"

H. Höring: Die Entwicklung wirtschaftspolitischer Aufgaben und Meinungen im Wuppertal, Wuppertal 1930, Seite 15

(Was für 1765 immerhin für dieses Gewerbe eine Anzahl von 32.000 Arbeitern ergibt.) Mit Ablauf eines Seidenmonopols 1775 wurde zusätzlich die Produktion von Seidenwaren erfolgreich aufgenommen. Andererseits waren die Versuche zur mechanischen Spinnerei im Wuppertal nicht geglückt, die erste Baumwollspinnerei des Kontinents wurde 1784 in Cromfort bei Ratingen errichtet. Andererseits konnte die Textilindustrie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Initiator weiterer (zulieferenden) Industrie-Entwicklungen gesehen werden: "Es ist klar,daß im Tale selbst versucht werden mußte, Textilmaschinen herzustellen. Und der schließliche Erfolg ist nicht nur eine reichgegliederte Textilmaschinenindustrie, sondern ... eine bedeutende Maschinenindustrie, die in einigen ihrer Vertreter sogar Bergwerksbedarf befriedigt...Die Papierindustrie wurde ebenfalls eine wichtige Hilfsindustrie. Alles andere überschattend, erwuchs, vom textilindustriellen Bedarf ausgehend, die chemische Industrie mit ihrem Hauptvertreter in den Farbenfabriken Fr. Bayer."

ebendort, Seite 30f

"Im Jahre 1821 wurde ...in Elberfeld ein Jaquard-Webstuhl aufgestellt...Mit der Einführung der Jaquardweberei setzte der Übergang vom reinen Hand- zum Maschinenbetrieb ein."

ebendort, Seite 31

Andererseits wuchs mit der Einführung der Dampfkraft auch die Verelendung im Wuppertal aufgrund damit einsetzender Rationalisierungsprozeße, welche erst ab ca. 1860 wieder einem gewissen Arbeitskräftemangel wich: "...und wie viele Arme, Nothleidende, Bettler, Taugenichtse, Straßenräuber und Diebe das Maschinenwesen, gleichsam auch maschinenmäßig hervorgebracht hat!"

T. Ündülag: Historische Texte aus dem Wupperthale, Wuppertal 1989, Seite 210

Eine zentrierte Fabrikweberei setzte in Elberfeld mit der Einführung des mechanischen Webstuhls im Jahre 1844 durch die Firma Boeddinghaus ein.

siehe auch: H. Höring: Die Entwicklung wirtschaftspolitischer Aufgaben und Meinungen im Wuppertal, Wuppertal 1930, Seite 81

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7.2 Politisch-religiöse Situation

In der Literatur über das Wuppertal der damaligen Zeit wird die teilweise extreme Religiosität der Einwohner als augenfälligstes Merkmal gerne herausgestellt. Als Beispiel hier eine Prediktbeschreibung von F. Engels: "Dann rennt er in allen Richtungen auf der Kanzel umher, beugt sich nach allen Seiten, schlägt auf den Rand, stampft wie ein Schlachtroß und schreit dazu, daß die Fenster klirren und die Leute auf der Straße zusammenfahren. Da beginnen denn die Zuhörer zu schluchzen; zuerst weinen die jungen Mädchen, die alten Weiber fallen mit herzzerschneidenden Sopran ein, die entnervten Branntweinpietisten, denen seine Worte durch Mark und Bein gehen würden, wenn sie noch Mark in den Knochen hätten, vollenden die Dissonanz..."

F. Engels: Briefe aus dem Wuppertal, Marx-Engels-Werke,Band 1,(Ost-)Berlin 1978, Seite 422

Diese teilweise schon fast amerikanisch anmutende Religiosität begründete sich in der Freiheit der Religionsausübung im ansonsten katholisch regiertem Herzogtum Berg, welche das Wuppertal und seine Umgebung zur Zufluchtsstätte diverser protestantischer Kirchengemeinden machte. Dabei entstand natürlich unter den Kirchengemeinden eine (auch wirtschaftliche) Konkurrenzsituation, welche prägend wurde: "Die stark religiöse Einstellung hat direkte wirtschaftliche Folgen gezeitigt. So kann die Gründung eines ganzen Wirtschaftsgebietes, der Stadt Ronsdorf mit ihrer Hutbänderfabrikation, auf den "Propheten" Eller zurückgeführt werden, der mit seiner Sekte aus Elberfeld ausgewiesen wurde."

H. Höring: Die Entwicklung wirtschaftspolitischer Aufgaben und Meinungen im Wuppertal, Wuppertal 1930, Seite 13

So ist es wenig verwunderlich, daß die politisch führenden Persönlichkeiten des Tales sowohl die Wirtschaft bestimmten, wie auch in ihren jeweiligen Kirchengemeinden führende Rollen einnahmen. So gründete Daniel von der Heydt, einer der führenden Mitbegründer des "Elberfelder Systems" und seines Zeichens Bankier 1835 die Niederländisch-Reformierte Gemeinde in Elberfeld

siehe auch: H. Höring: Die Entwicklung wirtschaftspolitischer Aufgaben und Meinungen im Wuppertal, Wuppertal 1930, Seite 12

(Die Reformiert-Niederländische Gemeinde wurde erst später ansässig, beide sind aber noch heute präsent). Andererseits ist es bezeichnend, das diese Religiosität alle Bevölkerungsschichten durchzog: "In den niederen Ständen herrscht der Mystizismus am meisten unter den Handwerkern... Da sitzt der Meister, rechts neben ihm die Bibel, links, wenigsten sehr häufig - der Branntwein"

F. Engels: Briefe aus dem Wuppertal, Marx-Engels-Werke,Band 1,(Ost-)Berlin 1978, Seite 418

-womit der die Lebensumstände breiter Bevölkerungsschichten begleitende Alkoholismus angesprochen wurde, welcher parallel zur Politisierung der Arbeiter ab 1845 zur Gründung christlicher Abstinenzvereine führte (das Blaukreuz als älteste Einrichtung dieser Art in Deutschland hat noch heute seinen Sitz in Wuppertal). Die vorher erwähnte Politisierung spiegelt sich in einem Brief von Friedrich Engels an Karl Marx aus diesem Jahr wieder: "Hier in Elberfeld geschehen Wunderdinge. Wir haben gestern im größten Saale und ersten Gasthof der Stadt unsere dritte kommunistische Versammlung abgehalten ... Das Ding zieht ungeheuer. Man spricht von nichts als vom Kommunismus."

F. Engels: Marx-Engels-Werke,Band 27,(Ost-)Berlin 1978, Seite 20, hier aus: T. Ündülag: Historische Texte aus dem Wupperthale, Wuppertal 1989, Seite 45

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8. Entwicklung der Elberfelder Armenfürsorge bis 1852

Bis ungefähr 1800 war die Armenfürsorge im Wuppertal wie auch im gesamten Herzogtum Berg alleinige Aufgabe der jeweiligen Kirchengemeinden, welche aber ihren Auftrag aber immer weniger erfüllen konnten ( So wurde 1771 z.B. 42 katholischen Gemeindemitgliedern ausdrücklich das Einsammeln von Almosen gestattet, da diese Gemeinde als ärmste und kleinste für ihre Armen nicht mehr selber aufkommen konnte, ein Schicksal, welches im Teuerungsjahr 1795 auch die lutherischen Gemeinden traf)

siehe auch: G. Werner: Hundert Jahre Hilfe von Mensch zu Mensch, In: Stadt Wuppertal (Presseamt): Hilfe von Mensch zu Mensch, Wuppertal 1953, Seite 18

. Mit dem Einfluß der französischen Revolution (und damit auch der in der Erklärung der Menschenrechte formulierten Pflicht der Unterstützung durch die Öffentlichkeit) auf Elberfeld, welches 1795 französisch besetzt wurde, ging auch die Armenfürsorge auf die Kommune über

siehe auch: W. R. Wendt: Geschichte der sozialen Arbeit, Stuttgart 1990, Seite 115

. ( Die Lage in Barmen ist diesbezüglich weniger gut dokumentiert, die Entwicklung dürfte aber aufgrund der preussischen Besetzung Barmens bis zur Übernahme des Elberfelder Modells durch Barmen 1863 ähnlich verlaufen sein. ) 1800 gründete J. Aders, offenbar durch das Hamburger Modell inspiriert, die "Allgemeine Armenanstalt" nebst Armenhaus (als Arbeitsanstalt und "Armenschule"). Finanziert wurde diese Institution sowohl durch die Kommune (Spenden, später auch Steuern) wie auch durch die kirchlichen Gemeinden (Welche dadurch auch Einfluß behielten). Da aber, anders wie in Hamburg, keine von der Industrieproduktion unabhängige Einnahmequelle zu Verfügung stand, war die Finanzierung von der allgemeinen wirtschaftlichen Situation abhängig, welche meistens mehr als prekär war (Schutzzölle bzw. Einfuhrverbote gegen bergische Industrieprodukte / Kontinentalsperre etc). Infolgedessen war die Allgemeine Armenanstalt, welche später "Central-Wohltätigkeits-Anstalt" hieß, zunehmend defizitär. Andererseits versagte sie aber auch angesichts der industriellen Entwicklung bezüglich ihrer Aufgabe der Reintegration der zu Versorgenden in die Arbeit, so das diese dauerhaft auf Versorgung angewiesen waren. Zuletzt verschlang die Armenfürsorge, als 1849 eine Cholera-Epidemie die Zahl der Versorgungsbedürftigen zusätzlich anstiegen ließ, mehr als die Hälfte des gesamten Elberfelder Steueraufkommens

siehe auch: G. Werner: Hundert Jahre Hilfe von Mensch zu Mensch, In: Stadt Wuppertal (Presseamt): Hilfe von Mensch zu Mensch, Wuppertal 1953, Seite 18ff

(Verschärft wurde diese Situation dadurch, das obwohl der Grad der Unterstützung eher restriktiv ausgelegt wurde (" Der Zustand des unterstützten Armen muß schlechter sein als der des geringsten Tagelöhners."

T. Ündülag: Historische Texte aus dem Wupperthale, Wuppertal 1989, Seite 403

) man nicht umhin kam zu erkennen, daß die Löhne jener Zeit das anerkannte Existenzminimum unterboten: "(Abhörbogen für die Familie des Webers F. W. Schütz aus dem Jahr 1844:) Der 47jährige Antragsteller war Vater von vier Kindern und verdiente zusammen mit seinem 18jährigen Sohn in der Woche 3 Taler 15 Silbergroschen ... Legt man die Angaben der Handelskammer für 1845 zugrunde ... ergibt sich, daß die Familie ca. 540 Silbergroschen im Monat für Nahrung aufwenden mußte. Dafür standen aber ...(Nach Abzug der Miete)... nur 370 Silbergroschen zur Verfügung.)

T. Ündülag: Historische Texte aus dem Wupperthale, Wuppertal 1989, Seite 414f

Angesichts der drohenden Finanzkrise versuchte die Stadt, die Armenverwaltung den Kirchen zu übertragen, und nahm diesbezüglich Verhandlungen mit den Kirchengemeinden auf, welche aber 1852 letztlich am Widerstand der reformierten Gemeinde scheiterten, da "die dem Presbyterium angebotene Übernahme der bürgerlichen Armenmittel prinzipiell und wesentlich etwas anderes ist, als die nach dem Worte Gottes in der Ordnung unserer Kirche gegründete christliche Diakonie"

T. Ündülag: Historische Texte aus dem Wupperthale, Wuppertal 1989, Seite 424

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9. Das Elberfelder System

In dieser Situation entwickelten D. von der Heydt als Leiter der damaligen Armenverwaltung sowie seine beiden Mitarbeiter G. Schlieper und D. Peters eine neue "Armen-Ordnung" für die Stadt Elberfeld, welche bald das "Elberfelder System" genannt wurde. Ziele dieser Ordnung waren: Dezentralisierung in der Form, das dem Armenpfleger (Provisor) eine weitestgehende Entscheidungsfreiheit bezüglich der anzuwendenden Hilfe übertragen wurde (Straffung von Organisationsstrukturen), Individualisierung der Hilfemassnahmen sowie eine erhöhte Kontrolle der Hilfsbedürftigen. Hierzu wurde die Stadt in 252 Quartiere unterteilt, denen je ein Provisor vorstand, welcher sich um vier bis maximal 10 Familien und alleinstehende Arme zu kümmern hatte. Je 15 dieser Quartiere wurden zu einem Bezirk zusammengefasst, die Armenpfleger traffen sich 14tägig zu Bezirkversammlungen, wo sie unter der Leitung eines Bezirksvorstehers über die Unterstüzungsmaßnahmen berieten. "Wer nun eine "Armenhilfe" aus städtischen Mitteln beantragen wollte, mußte ein Gesuch an den Armenpfleger des betreffenden Quartiers richten, innerhalb dessen sein Wohnsitz lag. Daraufhin hatte sich der Armenpfleger unverzüglich durch sorgfältige und persönliche Untersuchung Kenntnis von den Verhältnissen des Bittstellers zu verschaffen und, wenn er sich überzeugte, daß gesetzlicher Anspruch auf Armenhilfe vorlag, in der nächsten Bezirksversammlung das Gesuch vorzutragen und seine Anträge zu stellen. In dringenden Fällen war er berechtigt, "ausnahmsweise und in ganz geringen Beträgen" eine sofortige Abhilfe zu gewähren...Im übrigen aber entschied die Bezirksversammlung durch Mehrheitsbeschluß...Die von der Verwaltung genehmigten Gelder, Brot- und Suppenkarten, Anweisungen auf Kleidungsstücke usw. wurden dem Bezirksvorsteher ausgehändigt, der sie in der nächsten Bezirksversammlung jedem Armenpfleger in der für ihn bewilligten Höhe übergab."

G. Werner: Hundert Jahre Hilfe von Mensch zu Mensch, In: Stadt Wuppertal (Presseamt): Hilfe von Mensch zu Mensch, Wuppertal 1953, Seite 27f

Wie dem Zitat entnehmen zu ist, zielte diese Reform der Armenpflege auf eine deutliche Kostenkontrolle und damit auf eine Entlastung des städtischen Etats, was später auch immer wieder als Erfolg propagiert wurde. Andererseits wurde aber auch die Kontrolle der Bedürftigen durch die Armenpfleger verschärft und formalisiert: "Hatte der "Hülfsprovisor" von 1841 im wesentlichen den Anhörungsbogen auszufüllen und noch eine Verdienstbescheinigung zu beschaffen gehabt, sah sich der Armenpfleger von 1861 mit etwa 20 Formularen konfrontiert, die das Leben eines Armen buchstäblich von der "Wiege bis zur Bahre" erfaßten."

T. Ündülag: Historische Texte aus dem Wupperthale, Wuppertal 1989, Seite 433

"Der Armenpfleger hatte...eine entscheidende Position. Er besuchte den ihm zugewiesenen Armen mindestens alle 14 Tage in ihren Wohnungen, teilte persönlich die bewilligten Unterstützungen aus und war verpflichtet, deren Verwendung zu kontrollieren. Da die Unterstützung nur für jeweils 14 Tage...bewilligt wurde, mußte jeweils ein neuer Antrag gestellt werden, dessen Bewilligung wiederum eine genaue Überprüfung der Situation des Antragstellers durch den Armenpfleger vorausgehen mußte."

T. Ündülag: Historische Texte aus dem Wupperthale, Wuppertal 1989, Seite 431

Das dieses Verfahren einen abschreckenden und zermürbenden Charakter aufwies, kann kaum bezweifelt werden. Immerhin erwiesen sich 1853 47% (1902: 30,7%) der Bewilligungen als einmalig. Andererseits zeichnete sich das Elberfelder System durch stabile und standarisierte Unterstützungsbeträge aus,

siehe auch:N. Preußer: Not macht erfinderisch, München 1989, Seite 240

wobei bei sinkender Anzahl der unterstützten Personen die Unterstützung pro Person stieg:

Tabelle: Durchschnittlicher Unterstützungsbetrag pro "Außenarmen"

G. Werner: Hundert Jahre Hilfe von Mensch zu Mensch, In: Stadt Wuppertal (Presseamt): Hilfe von Mensch zu Mensch, Wuppertal 1953, Seite 37

Jahr Taler Silbergroschen Pfennig
1829 4 5 4
1847 7 29 2
1852 11 23 7
1857 11 13 4
1867 18 3 9

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10. Fazit: Die Auswirkungen des Elberfelder Modells :

10.1 Allgemeines (preußisches) Landrecht, Elberfelder System und BSHG

Wie schon vorher erwähnt, formulierte die (bürgerliche) französische Revolution mit der "Erklärung der Menschenrechte" von 1793 die Pflicht zur öffentlichen Fürsorge. Diesem Gedanken folgte auch das preußische "Allgemeine Landrecht" von 1794 : "Dem Staat kommt es zu, für die Ernährung und für die Verpflegung derjenigen Bürger zu sorgen, die sich ihren Unterhalt nicht selbst verschaffen und denselben auch von andern Privatpersonen, welche nach besondern Gesetz dazu verpflichtet sind, nicht erhalten können."

preußisches ALR, Teil II, Artikel 19, hier in: W. R. Wendt: Geschichte der sozialen Arbeit, Stuttgart 1990, Seite 115

Als Träger dieser Fürsorge wurde schon damals die Städte und Landgemeinden benannt, ein Prinzip, an dem sich bis heute nichts geändert hat (BSHG §96, 1. Absatz, Satz 1: "Örtliche Träger der Sozialhilfe sind die kreisfreien Städte und die Landkreise."), und welches mit der preußischen Städteordnung (1808) verfestigt wurde. Während die Gemeinden über Art und der Umfang der Unterstützung bestimmen konnten, war die Organisation der Armenpflege durch die Städteordnung vorgegeben: So mußte eine "Armendeputation", bestehend aus Mitgliedern der Geistlichkeit, Ärzten und dem Vorsteher der Ortspolizei, gebildet werden. desweiteren wurden die Städte in Armenbezirke aufgeteilt werden, denen ehrenamtliche Armenpfleger zugeteilt wurden, welche die "Armen auszumitteln und ihren Zustand zu untersuchen" hatten. In der Folgezeit entwickelte sich aber eine Tendenz dahingehend, daß die Städte sich ihrer Armen und damit ihrer finanziellen Belastungen durch Vertreibung zu entledigen versuchten. "In der Verweigerung des Niederlassungsrechts und den Abschiebepraktiken der Behörden schlug die gewährte Freizügigkeit (des ALR) auf die Armen zurück. Entwurzelung und Heimatlosigkeit wurden nicht beseitigt, sondern forciert..."

N. Preußer: Not macht erfinderisch, München 1989, Seite 239

Diese Entwicklung führte deshalb zu den Armengesetzen, welche zu der Schöpfung des "Unterstüzungswohnsitzes" führte: Die Städte wurden zur Unterstützung verpflichtet, wenn sich der Hilfsbedürftige mehr als ein Jahr in der Stadt aufgehalten hatte; der bloße Verdacht der Verarmung war kein Grund mehr, jemanden der Stadt zu verweisen. Auch dieses Prinzip hat sich bis heute erhalten.

BSHG §97, 1. Absatz, Satz 1 und 2 "Für die Sozialhilfe örtlich zuständig ist der Träger der Sozialhilfe, in dessen Bereich sich der Hilfeempfänger tatsächlich aufhält. Diese Zuständigkeit bleibt bis zur Beendigung der Hilfe auch dann bestehen, wenn die Hilfe außerhalb seines Bereiches sichergestellt wird."

Zusätzlich wurden sogenannte Landarmenverbände gegründet, welche unvermögende Gemeinde wie auch diejenigen Arme versorgen sollten, welche es nicht zu einem Unterstützungswohnsitz gebracht hatten. Diese Landarmenverbände können als eine der historischen Vorläufer-Institutionen der Landschaftsverbände, welche in NRW die Träger der sogenannten überörtlichen Sozialhilfe sind, betrachtet werden. Wie schon im ALR wurde auch 1842 nochmal das Subsidiaritätsprinzip betont, welches auch heute noch gilt.

BSHG §2, 1. Absatz, Satz 1 "Sozialhilfe erhält nicht, wer sich selber helfen kann oder wer die erforderliche Hilfe von anderen, besonders von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen erhält."

Das Bundessozialhilfegesetz von 1961, welches das "Elberfelder System" ablöste, welches in stark abgewandelter Form bis dahin (immerhin 108 Jahre) fortbestand, übernahm aber auch von diesem einige Grundprinzipien. Hier sind insbesondere das Prinzip der individuellen Hilfe zu nennen

BSHG §3, 1. Absatz, Satz 1 "Art,Form und Maß der Sozialhilfe richten sich nach der Besonderheit des Einzelfalles, vor allem nach der Person des Hilfeempfängers, der Art seines Bedarfs und den örtlichen Verhältnissen."

, aber auch das Prinzip der Bedarfsdeckung mittels fester Bedarfsätze,

BSHG §22 1. Absatz, Satz 1 "Laufende Leistungen zum Lebensunterhalt ... werden nach Regelsätzen gewährt."

welche auch heute ein ausdauernder Quell des öffentlichen Streites darstellt: "Dessen konsequente Durchführung trieb die Armenpflege freilich in eine notorische Widersprüchlichkeit, schwächte den ökonomischen Arbeitszwang für die Niedriglohngruppe der Arbeiterklasse und wirkte tendenziell als Mindestlohn-Garantie. Dies wiederum nötigte zu einer systematischen Unterkalkulation der faktischen Unterstützungsbeiträge, zur Minimalisierung des "notwendigen Lebensbedarfs"..."

N. Preußer: Not macht erfinderisch, München 1989, Seite 240f, siehe hierzu auch BSHG §22 6. Absatz, Satz 1 "Die am 30. Juni 1996 geltenden Regelsätze erhöhen sich mit Wirkung vom 1. Juli 1996 um 1 von Hundert." - Hier wurde der Regelsatz eindeutig eher den fiskalischen als den realen Verhältnissen angepasst.

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10.2 Die Geburt des Sozialarbeiters

"Um 1850 schlägt in Deutschland die Geburtsstunde eines neuen Berufsstands, in dessen Aufgabenstellung sämtliche Funktionen der Armenpflege zusammengefaßt werden. der (zunächst ehrenamtliche) Armenbesucher fungierte als behördlich beauftragtes Organ von Gesundheits-, Erziehungs- und Wirtschaftsfürsorge. Mit dem Institut des Armenbesuchers war eine Tendenz zur Rationalisierung und Professionalisierung der Armenpflege verbunden..."

N. Preußer: Not macht erfinderisch, München 1989, Seite 241

Mit der zunehmenden Bürokratisierung und der steigenden Gesetzesflut auch in diesem Bereich zeigte sich zunehmend die Notwendigkeit, die Armenpfleger zu schulen beziehungsweise später auch regelrecht auszubilden, damit sie ihrer Aufgabe gerecht werden konnten. Selbst in Elberfeld lösten nach der Jahrhundertwende "berufsmäßig vorgeschulte Fachkräfte, deren Sachkenntnis in Dingen der Fürsorge man bei den neuen verwickelten wirtschaftlichen Verhältnissen, den zahlreichen Versicherungsbeziehungen der Betreuten und den verschiedenen neuen Kategorien Hilfsbedürftiger nicht mehr entbehren konnte"

G. Werner: Hundert Jahre Hilfe von Mensch zu Mensch, In: Stadt Wuppertal (Presseamt): Hilfe von Mensch zu Mensch, Wuppertal 1953, Seite 62

, allmählich das System der ehrenamtlichen Armenpfleger und ihrer räumlichen Zuständigkeit ab. Aus dem Fürsorgepfleger wurde später der (akademische) Sozialarbeiter.

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11. Zeittafel 2 (Elberfeld)

1527 (Textil-) Bleich- und Zwirnmonopol für das Wuppertal vergeben, langsamer Aufbau des wuppertaler Textilgewerbes
1610 Verleihung der Stadtrechte an Elberfeld
1763-1794 Freistellung vom Militärdienst fördert den Zustrom von Arbeitskräften
1775 Mühlheimer Seidenmonopol fällt, Beginn der Produktion von Seidenwaren
1784 Erste kontinentale Baumwollspinnerei Cromfort bei Ratingen
1794 Allgemeines preussisches Landrecht
1795 Elberfeld durch Frankreich besetzt (Barmen durch Preußen)
1800 Gründung der "Allgemeinen Armenanstalt" durch J.Aders.
1806 französische Verwaltungsgliederung: Barmen wird Stadt

Einwohnerzahl Barmens: 14.300

1815 Anschluß des Großherzogtums Berg an Preußen
1816 Einwohnerzahl Elberfelds: 21.700
1838-1841 Eisenbahnstrecke von Düsseldorf nach Elberfeld

Einwohnerzahl Elberfelds: 31.000

1839 Friedrich Engels: Briefe aus dem Wuppertal
1842 Preussische Armengesetze
1844 Einführung des mechanischen Webstuhls durch W. Boeddinghaus, Beginn der Fabrikmäßig organisierten Weberei
1845 erste kommunistische Versammlungen in Elberfeld durch F. Engels
1847 Einwohnerzahl Barmens: 34.000
1852 Einwohnerzahl Elberfelds: 46.000 (Zum Vergleich: Einwohnerzahl Düsseldorfs: 28.000)
1853 Elberfelder System

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12. Literatur:

Allgemein:

Hermann Krings, Hans Michael Baumgartner, Christoph Wild (Hrsg.): Handbuch philosophischer Grundbegriffe,Band 1,München 1973

Georg Klaus, Manfred Buhr (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch, Band 1, Berlin 1975

Karl Marx, Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie, Marx-Engels-Werke,Band 3,(Ost-) Berlin 1978,

Friedrich Engels: Briefe aus dem Wuppertal, Marx-Engels-Werke,Band 1, (Ost-)Berlin 1978

Hanfried Scherer, Irmgard Sahler (Hrsg.), Einstürzende Sozialstaaten, Wiesbaden 1998,

Wolf Rainer Wendt: Geschichte der sozialen Arbeit, Stuttgart 1990

Ernst Köhler: Arme und Irre, Berlin 1979

Norbert Preußer: Not macht erfinderisch, München 1989

Ulrich Stascheidt (Hrsg.): Gesetze für Sozialberufe, Band 1, Frankfurt a. M. 1998 (BSHG)

spezieller auf das "Hamburger Modell" eingehend:

Inge Stephan, Hans-Gerd Winter (Hrsg.), Hamburg im Zeitalter der Aufklärung , Berlin 1989

C. von Voght: Über Hamburgs Armenwesen, Braunschweig u. Hamburg 1796

spezieller auf das "Elberfelder System" eingehend:

Hans Höring: Die Entwicklung wirtschaftspolitischer Aufgaben und Meinungen im Wuppertal, Wuppertal 1930

Tânia Ündülag: Historische Texte aus dem Wupperthale, Wuppertal 1989

Stadt Wuppertal (Presseamt): Hilfe von Mensch zu Mensch, Wuppertal 1953

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